Erlebnisse eines Late Adopters

Erlebnisse eines Late Adopters

Ich bin wohl der größte Late Adopter unter der Sonne. Letztes Jahr habe ich mir erstmals einen Plattenspieler gekauft. Aber einmal war ich auch ein absoluter Early Adopter: Es war um 1996, als ich das erste Mal, begleitet vom fürchterlichen Rauschen, Knacken und Zischen eines 56K-Modems, die Weiten des Internets betreten habe. Der Ausflug dürfte angesichts der minutengenau abgerechneten horrenden Kosten recht kurz gewesen sein und hat sich angefühlt wie die Mondlandung (mindestens) – grenzenlose Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten taten sich auf.

Schon kurze Zeit später hatte ich meine erste Geocities-Webseite mit blinkendem Sternenhintergrund, um meine selbstproduzierte, elektronische Musik wenig erfolgreich zu vermarkten. 20 Jahre später wollte die GEMA Lizenzgebühren für diese Musik eintreiben, obwohl sie daran keinerlei Rechte besaß. Aber das ist eine andere Geschichte.

Heute beschäftige ich mich im Internet bevorzugt damit Cookie-Banner wegzuklicken, 2-Faktor-Authentifizierungen einzugeben und Captchas zu lösen. Die buchstabengetreue Einhaltung von DSGVO, Impressumspflicht, Telemediendienstegesetz und anderen Regularien – alle zum Besten von uns allen – müssen mir natürlich ebenfalls ein großes Anliegen sein.

Von Opfern, Tätern und dem Staat

Opfer von Straftaten wurde ich früh. Zwei Mal wurde in das elterliche Haus eingebrochen. Eines meiner Autos wurde von Vandalen beschädigt, zwei weitere wurden aufgebrochen. Eine meiner Webseiten wurde in den frühen 2000er-Jahren gehackt. Und Ende der 1990er fürchtete ich auf dem Boden einer McDonalds-Filiale liegend, dass mein Leben vorzeitig von drei bewaffneten Gangstern beendet werden könnte. Täter wurden nie ermittelt, geschweige denn verurteilt.

Dass es nach dem McDonalds-Überfall immerhin zu Festnahmen gekommen war, erfuhr ich zufällig aus der Presse. Die Ladung als Zeuge durfte ich mir jedoch persönlich beim Postamt als Einschreiben abholen, und zwar einen Tag vor Prozessbeginn. Während die Täter rechtliche Rundumbetreuung und mutmaßlich mildernde Umstände aufgrund Drogensucht, schwerer Jugend oder dergleichen erhielten, wurde mir als Opfer weder das Strafmaß mitgeteilt noch sonstige Information oder Unterstützung zuteil.

Drei Mal wurde ich auch Opfer von Abmahnanwälten, die mir mein mühsam erarbeitetes Studenteneinkommen aufgrund von Nichtigkeiten wie Impressumsfehlern ganz legal abnahmen. Nicht zu vergessen: die Vermieterin, die nach einem kapitalen Wasserschaden keine Lust hatte, die Wohnung trocknen zu lassen. Für den darauffolgenden Schimmelbefall wurde ich verantwortlich gemacht: falsches Lüftungsverhalten. Nach Jahren eines kafkaesken Prozesses endete das Verfahren mit einem Vergleich, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, sich mit den Fakten des Falls zu befassen. Nur um endlich den Ballast von der Seele loszuwerden, stimmte ich zu.

Von gesellschaftlicher Verantwortung und sozialem Zusammenhalt

Im Glauben an meine gesellschaftliche Verantwortung habe ich dem Land natürlich auch voller Überzeugung gedient. Der Staat wusste nichts Besseres mit meiner besten Lebenszeit anzufangen, als mich 12 Monate lang Werkzeug bewachen zu lassen. Vor- und Ausbildung, Qualifikationen und Hinweise auf das, was ich leisten könnte, interessierten niemanden.

Ein Sozialsystem und Steuern zur Finanzierung von Dingen, die das Leben der Bürger verbessern, wie Polizei, Feuerwehr und Krankenhäuser, halte ich eigentlich für ein gutes Konzept und tatsächlich verbringe ich schätzungsweise 60% meiner Zeit damit, Einkommen für den Staat zu erwirtschaften.

Was aber tut der Staat damit? Egal wie viel Geld arbeitende Bürger wie ich ihm liefern, er schafft es einfach nicht, mit seinen verfügbaren Mitteln auszukommen oder gar einen Euro zu sparen. Stattdessen verteilt er das Geld großzügig an Glücksritter, die bei uns ein besseres Leben suchen (ihr gutes Recht), darunter auch solche, die meinen Lebensstil dermaßen ablehnen, dass sie es geschafft haben, mir den Besuch von Weihnachtsmärkten und anderen öffentlichen Veranstaltungen zu verleiden.

Er gibt auch gerne an ferne Länder, zu denen ich keinerlei Beziehung habe, damit diese davon Waffen erwerben oder Infrastruktur bauen können, während die unsere hierzulande zerbröselt. (Für neue Ampeln und Verkehrsbehinderungen scheint indes stets Geld vorhanden zu sein.)

Diese absurde Umverteilung hat meine Leistungsbereitschaft erstickt und mein Streben auf ein einziges Ziel ausgerichtet: den vorzeitigen Ruhestand.

Social Media mochte ich noch nie. Deshalb fällt mir der Verzicht nicht schwer, zumal deren Nutzung neuerdings eine Hausdurchsuchung zur Folge haben könnte. Ohnehin bevorzuge ich es, meine Freunde klassisch analog zu treffen. Seit aber immer mehr Gaststätten aufgrund von Regulierung (Rauchverbote), Lockdownspätfolgen (Personalmangel) und Inflation sterben, macht das auch keinen Spaß mehr.

Doch selbst diese Verluste kann ich verschmerzen. Denn die Anzahl der Freunde nimmt mit jeder weiteren Moralisierungswelle, die die Menschen entlang ihrer Haltung zu Viren, zum Krieg, zu sexuellen Vorlieben und dem Wetter spaltet, von alleine ab, wenn man sich nicht innerhalb der Grenzen des medial definierten Meinungsspektrums bewegt.

Späte Erkenntnisse

Liest sich das depressiv? Ja, das ist es. Der Elefant im Raum ist die Frage nach dem Schuldigen. Den Staat zu benennen wäre zu einfach. Nein, der wahre Schuldige bin ich selbst. Ich habe viel zu lange darauf vertraut, dass der (Rechts-)Staat zuallererst die Interessen seiner Bürger wahrt.

Doch zunehmend erkenne ich ein Muster: Der Staat versagt auf ganzer Linie, er schützt mich nicht, er schafft die Grundlage amoralischer Geschäftsmodelle, er verschwendet mein Geld und meine Lebenszeit und er interessiert sich zuerst für jene, die ihm für den Erhalt und die Ausdehnung seiner Macht nützlicher erscheinen. Je klarer sein Versagen zutage tritt, desto willkürlicher und autoritärer verhält er sich. Ich empfinde ihn zunehmend bedrohlich.

Ich bin ein absoluter Late Adopter. Nach einem halben Leben lese ich jetzt Ayn Rand, Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Roland Baader und sympathisiere mit den Positionen von Javier Milei, Elon Musk und Markus Krall. Ich staune, dass meine Erkenntnisse nicht neu sind und im Kern seit Jahrhunderten reflektiert werden. Warum habe ich davon nie zuvor in Schule oder Medien gehört?
Bin ich jetzt ein „autoritärer Libertärer“ (© die deutsche Linke)?

Mein „Autoritarismus“ besteht einzig darin, dass ich anfange, mich hier als Handelsvertreter von Freiheit, Marktwirtschaft und Minimalstaat zu äußern, in der Hoffnung andere Late Adopter zu werben.

Gleichzeitig denke ich darüber nach, ob mir allein schon für die Veröffentlichung dieser Gedanken Sanktionen drohen könnten. Beängstigend. Oder?